Interview mit Dr. Sylke Tempel „Unsere Demokratien zu verteidigen, heißt unseren Alltag zu verteidigen.“

27.09.2017 Politik

Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind für eine funktionierende Demokratie unerlässlich. Politiker müssen wieder lernen, Leidenschaft und Neugierde für ihr Feld spürbar zu machen.

Der Aufstieg populistischer Parteien in demokratischen Gesellschaften wird von vielen Seiten mit Sorge betrachtet. Die Wahl Donald Trumps und die Erfolge nicht etablierter Parteien wirken in Westeuropa auch deshalb beunruhigend, weil sie als Krisensymptom interpretiert werden: Das Selbstverständnis der demokratischen Kultur, das auf Debatte, Konsens und Kompromiss ausgerichtet ist, scheint bedroht. Wie groß ist die Gefahr tatsächlich, die vom Aufstieg des Populismus ausgeht? Ist das System demokratischer Ausgleichsmechanismen (der sogenannten „checks and balances“) stark genug, um auch populistische und antidemokratische Herausforderungen beantworten zu können? Welche gesellschaftlichen Kräfte sind dabei besonders gefordert?

Die Journalistin Dr. Sylke Tempel, eine erfahrene Beobachterin der amerikanischen Politik, warnt vor dem „Glanz der Ignoranz“ und rät zur „Leidenschaft für Professionalität“ und zum „zivil geführten Gespräch“. Wir haben nachgefragt, was darunter zu verstehen ist.

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Nachtrag: Frau Dr. Sylke Tempel ist am 05. Oktober 2017 auf tragische Weise ums Leben gekommen. Wir bedauern ihren Tod zutiefst und behalten sie nicht zuletzt aufgrund ihres Scharfsinns und Intellekts, die sie auch in diesem Interview zum Besten gegeben hat, in respektvoller Erinnerung.

Der aktuelle Erfolg populistischer Tendenzen wird oft mit der Sehnsucht nach Verbindlichkeit, Orientierung und Gewissheit begründet. Andererseits scheinen viele der momentan laufenden Debatten eher das zu verstärken, was Sie die „Kunst der strategischen Ambivalenz“ genannt haben, und Beliebigkeit, Verwirrung und Lüge zu fördern. Gibt es in den gegenwärtigen populistischen Bewegungen überhaupt eine erkennbare ideologische Kontur, oder sind sie doch nur Ausdruck von undifferenziertem Ressentiment?

Es ist nicht immer einfach, eine ideologische Grundstruktur in den populistischen Debatten zu unterscheiden, aber zwei Ströme würde ich doch trennen: unter den Anhängern jene, die ganz legitime Sorgen um ihre Arbeitsplätze in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung haben, um bezahlbaren Wohnraum, um die Zukunft ihrer Kinder und Enkel in einer Ära tief greifender technologischer Umbrüche, um die Natur unserer Gesellschaft und wie sie sich auch unter dem Einfluss von Migranten aus anderen Kulturen wandeln könnte. Das sind Themen, die zuweilen zornig angesprochen werden, die aber dringend behandelt werden müssen.

Damit oft verwandt ist ein Sentiment, das schwieriger zu fassen ist, das aber wenigstens zum Teil aus diesen Sorgen entsteht: das Sentiment, man werde ja nicht gehört, nicht ernst, nicht wahrgenommen. Die Kritik, dass Probleme da, aber noch nicht gelöst sind, muss man in Demokratien selbstverständlich ernst nehmen. Aber es schwingt dabei auch eine Enttäuschung mit der repräsentativen Demokratie an sich mit: „Auf uns hört ja keiner, wir machen ja eh keinen Unterschied“. Dem ist schwerer zu begegnen, denn natürlich wird in einer komplexen Gesellschaft nicht jeder immerzu Gehör finden, natürlich geben wir Aufgaben an gewählte Vertreter ab, auch weil sie in fast allen Fällen äußerst komplex sind. Und natürlich zählt zwar jede Stimme, aber bei 80 Millionen Einwohnern und in einer Demokratie geht es selbstverständlich immer um Interessenausgleich. Es gehört zum „Normalbetrieb“, dass dann die eigenen Interessen eben nicht voll und ganz zur Geltung kommen.

Und schließlich gibt es das ganz klare Ressentiment: dass Menschen, die aus anderen Kulturen stammen oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören, zwar toleriert werden, aber niemals gleichwertige Bürger sein können. (So dachte man in den Zeiten der Masseneinwanderung der 1920er-Jahre auch in den USA über katholische und jüdische Einwanderer aus Europa – was sich wohl als kompletter Irrtum erwies.)

Dieses Ressentiment, meines Erachtens nach ganz deutlich im erstarkenden rechtsextremen Flügel der AfD zu finden, ist fremdenfeindlich, antisemitisch, rassistisch. Hier geht es nicht mehr um die Lösung von Problemen, sondern um die Rückkehr zu einem angeblich „gesunden Volkskörper“, in dem alles, was nicht als „deutsch“ definiert wird (wobei „deutsch nicht als Staatsbürgerschaft, sondern als diffuse Zugehörigkeit zu einer nie wirklich ausbuchstabierten deutschen Kultur“ definiert wird), höchstens temporär toleriert werden kann.

Insgesamt geben die populistischen Parteien ja nur vermeintlich klare Antworten: vereinfachte Lösungen für komplexe Probleme wie Migration. Wie sollte denn auch beispielsweise eine Abschottung funktionieren, wenn man gleichzeitig die Grenzen innerhalb Europas offen halten will, um den freien Warenverkehr zu garantieren, der für unsere Wirtschaft wichtig ist? Wollten wir wirklich – als Wertegemeinschaft Europa – Menschen zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken lassen? Fluchtursachen lassen sich eben nur durch eine komplexe Kette von Stabilisierung in den Herkunftsländern, Hilfe bei deren wirtschaftlicher Entwicklung, Bekämpfung von Schleppertum, Schaffung legaler Möglichkeiten der Migration, Verteilung innerhalb Europas bekämpfen. Das besser zu vermitteln, wäre Aufgabe der sogenannten „etablierten“ Politik. Populisten hingegen gaukeln Lösungen vor, die am Ende keine sind, die die wirtschaftlichen Grundlagen dieses Landes gefährden und damit genau jenen schaden, denen sie angeblich zuhören und zu helfen versprechen. Das kann man auch Lüge nennen.

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat in einer Rede einmal die Frage gestellt, warum „so wenig Glorie darin[steckt], Anhänger der Demokratie zu sein“. Was wäre Ihre Antwort auf diese Frage? Warum erleben demokratische Gesellschaften, trotz aller gesellschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritte, die sie begünstigt haben, derzeit eine Sinnkrise?

Im Gegensatz zu Autokratien, in denen immer Ehre, Glorie und womöglich Menschheitsaufgaben wie die Herstellung „totaler Gerechtigkeit“ wie im Sozialismus betont werden, leben Demokratien ja von Konsens und Unauffälligkeit. Von möglichst viel „business as usual“, von der Tatsache, dass die meisten Menschen ihre Emotionen aus dem Privaten, nicht aber aus dem öffentlichen Raum beziehen. Demokratien zu verteidigen, ist ein bisschen wie Alltag zu verteidigen – der im Übrigen etwas hoch Gesundes ist, weil uns beständige Aufregung schlicht überfordert. Zuweilen scheint es aber Gegenbewegungen gegen die Moderne zu geben, die ja doch immer wieder Neues bringt und damit Anpassungen; gegen die Veränderungen, die ja auch, oder gerade in Demokratien stattfinden, allerdings eher von „unten“ als von oben verordnet. Demokratie ist eben Alltag, der sich doch ständig verändert. Das scheint manchen zuweilen zu ermüden.

Warum fällt es den wirtschaftlichen und politischen Eliten schwer, populistischen Tendenzen mit zukunftsweisenden gesellschaftlichen Orientierungen zu begegnen und die Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen zusammenzubringen?

Man sollte vielleicht etwas vorsichtig sein mit „zukunftsweisenden gesellschaftlichen Orientierungen“ in einer Zeit, in der die rasanten technologischen Entwicklungen enorme Umbrüche mit sich bringen. „Internet oder Digitalisierung ist Neuland“ ist eben auch ein richtiger Satz, so sehr er belächelt wurde. Man wird, siehe oben, hier nicht wirklich „zukunftsweisen“ können, außer eine mentale Vorbereitung auf bevorstehende Brüche zu versuchen. Im Übrigen lebt die Menschheit nicht zum ersten Mal in Zeiten großer Umbrüche. Und es gilt natürlich auch – so schwer die Aufgabe ist – die „legitimen Klagen“ von den Ressentiments zu unterscheiden. Legitime Anliegen müssen behandelt werden, man muss Menschen, die sich jetzt politisch ausgeschlossen fühlen, wieder das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Aber mit dem Ressentiment, mit Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit kann es keinen Kompromiss geben.

Sie haben gefordert, der populistischen Lautstärke mit „größerer Leidenschaft in der Verteidigung politischer Professionalität und eines kritischen, aber zivil geführten Gesprächs“ zu begegnen. Debatte und Diskussion sind wesentliche Elemente einer demokratisch verfassten Zivilgesellschaft. Wie kann sich diese Gesellschaft wehren gegen Tendenzen, die jede Debatte verweigern wollen?

Auch beim Thema „offene Debatten führen“ komme ich auf dieses Thema zurück: Mit dem Vorurteil lässt sich keine Debatte führen, hier hilft nur die klare Zurückweisung. Das hätte zum Beispiel gegenüber Pegida sehr viel früher geschehen müssen. Aber über das „Wer sind wir als Gesellschaft, wer wollen wir sein, wie gehen wir offen, aber eben auch zivil mit dem Thema Integration um?“ muss diskutiert werden. Es ist aber ebenso legitim, eben einen solchen zivilen Ton in der Debatte einzufordern.

Wichtig wäre es für die „Nicht-Populisten“, die Debatte immer wieder sachlich zu führen, Tatsachen einzubringen, wo die „andere Seite“ mit Fehlinformationen oder auch gezielten Falschinformationen arbeitet. Das ist mühselig und die Provokation wird wohl weiterhin (leider) auch medial Aufmerksamkeit finden. Aber am Ende sprechen eben Tatsachen für sich.

Sie haben Kritik geübt am „postmodernen Gerede von den ‚Narrativen’, das „für den politischen Diskurs nicht gesund“ sei, und fordern, Tatsachen wieder mehr Geltung einzuräumen als „Erzählungen“. Aber lässt sich Leidenschaft und Begeisterung erzielen ohne emotionale, „erzählerische“ Komponente?

Warum sollten Tatsachen nicht auch eine emotionale Komponente haben – indem man mit Leidenschaft für sie kämpft, auf sie aufmerksam macht, sie immer wieder in den Vordergrund rückt. Wer sagt, dass man eine tatsachengrundierte Debatte nur mit trockenen Statistiken führen und nicht auch lebendig verpacken kann? Das allerdings ist etwas, was sogenannte Experten, aber auch Politiker wieder neu erlernen müssen: Leidenschaft und Neugierde für ihr Feld spürbar zu machen.

Welche Auswirkungen haben die aktuellen Entwicklungen auf öffentlich-rechtliche Institutionen wie die Sparkassen, zu deren Gründungsauftrag Aspekte wie Gemeinwohlorientierung und soziales Engagement gehören? Haben sie eine besondere Verantwortung, eine demokratische Kultur des Konsenses und Kompromisses zu stärken? Und wenn ja, wie könnten sie dieser Verantwortung am besten gerecht werden?

Zu der Frage nach der Aufgabe öffentlich-rechtlicher Institutionen wie Sparkassen kann ich eine kurze Antwort geben: Ja, sie haben eine besondere Verantwortung, eine demokratische Kultur des Konsenses und Kompromisses zu stärken. Das Schwesternpaar Glaubwürdigkeit und Vertrauen ist für das Funktionieren eines so diffizilen, so vielfältigen und so schönen Gefüges wie der Demokratie unerlässlich. Jeder, der Glaubwürdigkeit und Vertrauen stärken kann, jeder, der Teil dieses Gefüges ist, hat die Aufgabe, dies nach besten Möglichkeiten zu tun.



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