„Demokratie braucht Selbstwirksamkeit“

Statement des DSGV-Präsidenten Prof. Dr. Ulrich Reuter anlässlich der Berlin Freedom Week am 10. November 2025 in Berlin.


Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

es ist mir eine große Ehre,

heute zu Ihnen sprechen zu dürfen.

 

Zu Menschen,

die sich in der ganzen Welt für Demokratie einsetzen.

Für Freiheit.

Für Menschenrechte.

 

Es ist eine schöne und passende Idee,

diese Freedom Conference in Berlin zu veranstalten.

In einer Stadt,

die nach 12 Jahren der nationalsozialistischen Tyrannei

viele Jahre eine Insel der Freiheit war.

Von den USA, Großbritannien und Frankreich

verteidigt und ermöglicht.

 

Dann ein Ort friedlich selbsterkämpfter Freiheit,

wo die Mauer zwischen Ost und West

zum Einsturz gebracht wurde.

 

Ich möchte Ihnen allen meinen allergrößten Respekt ausdrücken

Für Ihren persönlichen Einsatz und Freiheitskampf.

Es gibt noch viele Mauern in der Welt.

Dahinter autoritäre Unterdrückungssysteme,

die mit Engagement und Mut

zum Einsturz gebracht werden müssen.

Dazu braucht es Menschen wie Sie.

Nach dem Democracy-Index (1) leben nur

15 % der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie.

39,5 % hingegen in einer Diktatur.

 

Ist dies heute also eine Versammlung

von Minderheiten für Minderheiten?

 

Ich sehe das anders.

Denn die erwähnte Untersuchung beschreibt einen Zustand.

Nicht die Sehnsüchte fast aller Menschen der Welt.

 

Der Kern dieser Sehnsucht

ist die Idee eines selbstbestimmten Lebens.

 

Mit dieser Sehnsucht beginnt

jede Freiheit, 

jede verfasste Demokratie.

 

Freiheit ist kein abstrakter philosophischer Begriff.

Freiheit beginnt mit Selbstwirksamkeit.

 

Das gilt in Diktaturen: Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit

ist ein notwendiger Beginn einer Freiheitsbewegung.

 

Es gilt aber auch in Demokratien:

Auch da muss Freiheit als reale Befähigung erlebt werden.

Und darf sich nicht in formalen Rechten erschöpfen.

 

Ich durfte in der letzten Woche eine Rede

in der Frankfurter Paulskirche halten.

Das ist der Ort des ersten demokratisch gewählten Parlaments

in Deutschland.

 

In einer Tafel an der Wand steht der Name Amartya Sen (2)

Träger des in der Paulskirche verliehenen Friedenspreises.

Preisträger des Nobel-Preises für Wirtschaftswissenschaften.

Er sprach von Development as Freedom:

Für ihn besteht Freiheit in den Capabilities.

Also den tatsächlichen Fähigkeiten, das eigene Leben gestalten zu können.

 

Und da geht es um sehr viel mehr als politische Rechte:

Es geht um Zugang zu Bildung.

Zugang zu öffentlichen Räumen und Medien.

Zugang zum Wirtschaftsleben.

 

Deshalb ist für uns als Sparkassen der Kontozugang

für jedermann so zentral in unserer Gründungsidee.

Zugang zum Wirtschaftsleben

Unabhängig von Herkunft.

Unabhängig von Bildung.

Von Einkommen oder Vermögen.

Unabhängig von der politischen Einstellung.

 

Es geht um die Möglichkeit, sein Leben selbst gestalten,

schöpferisch tätig sein,

lieben und mitgestalten zu können.

Für alle.

Ohne Ausnahmen.

 

Auch empirisch wissen wir:

Zufriedenheit, Gesundheit und Demokratie

wachsen in den Ländern,

in denen Menschen das Gefühl haben,

Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben.(3)

 

Die ökonomische Selbstbestimmungstheorie

von Edward Deci und Richard Ryan  (4)

hat daraus ein Grundmodell entwickelt.

Drei Bedürfnisse tragen unser psychisches Wohlbefinden:

Autonomie – das Gefühl, selbst entscheiden zu dürfen.

Kompetenz – die Erfahrung, wirksam zu sein.

Und Verbundenheit – das Wissen, dass wir nicht allein sind.

 

Freiheit ist deshalb nicht nur die Abwesenheit von Zwang,

sondern die Präsenz von Gestaltungskraft.

 

Oder kürzer gesagt: Freiheit ist ein Raum,

in dem etwas möglich wird.

 

Erst aus diesen persönlichen Handlungskompetenzen wächst

Demokratie, nicht umgekehrt. (5)

Räume schaffen, in denen für Einzelne etwas möglich wird.

 

Das ist die zentrale Aufgabe.

Und das ist die Gründungsidee von Sparkassen.

Wir fassen das heute in unserer Markenidee so zusammen:

„Wir machen es Menschen einfach,

ihr Leben selbst gestalten zu können.“

 

Unser Beitrag ist dabei der Zugang zu Wirtschaft.

Zu finanzieller Bildung.

Zu Unternehmensgründungen.

Zu eigenbestimmter Wirtschaftstätigkeit.

Auch zu selbsterworbenem Einkommen und Vermögen.

 

Es geht also nicht um staatliche Fürsorge.

Es geht um Hilfe zur Selbsthilfe.

Um Befähigung.

Und um Selbstermächtigung.

 

Das ist die Grundlage von Freiheit.

 

Denn Demokratie gibt Rechte.

Aber nur Selbstwirksamkeit schafft den Glauben,

sie auch nutzen zu können. (6)

 

Wir versuchen, diese Idee in die Welt zu tragen.

Unsere Sparkassenstiftung für internationale Kooperation

ist seit der Gründung 1991 in mehr als 250 Projekten  in über

100 Ländern tätig geworden.

 

Es geht vor allem um

  •  finanzielle Bildung,
  •  Finanzierung von Kleinstunternehmen, häufig durch
  • Gruppen von Frauen,
  •  ländliche Finanzierungsprojekte,
  •  Entwicklung regionaler Institute
  •  und Green Finance.

 

Unsere Erfahrung daraus ist:

Aus finanzieller Befähigung wächst Teilhabe.

Aus Teilhabe entsteht Selbstbewusstsein.

Aus Selbstbewusstsein entsteht nicht nur Wohlstand,

sondern auch Bewusstsein für die Gestaltung öffentlicher

Räume.

Und damit auch Ansprüche

an die Mitgestaltung politischer Prozesse.

 

Nun habe ich eingangs die sogenannten vollständigen

Demokratien erwähnt.

Nur 25 an der Zahl.

Zu denen die nordischen Länder, Kanada, Australien zählen.

Auch Deutschland.

Übrigens nicht mehr die USA.

 

Auch in diesen sogenannten „vollkommenen Demokratien“

kann Freiheit erodieren.

 

Warum sind auch in Demokratien immer mehr Menschen bereit,

politischen Ideologien zu folgen,

die sich gegen Pluralität wenden?

Gegen demokratische Verfahren.

Gegen gleiche Rechte und Respekt für Andersdenkende.

 

Ich denke, dass auch das etwas mit Selbstwirksamkeit zu tun hat.

Oder präziser: Mit fehlender Erfahrung von Selbstwirksamkeit.

 

Ein wichtiger Faktor ist Komplexität:

Schneller technologischer Wandel.

Immer größere politische Einheiten,

auch die Europäische Union.

 

Immer komplexere Zusammenhänge.

Eine unüberschaubare Bürokratie.

 

Das alles ist sind Hindernisse für Selbstwirksamkeit.

Sie hindern Menschen an einem selbstbestimmten Leben.

Sie verhindern Überschaubarkeit.

Und lösen Gefühle der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins aus.

 

Das alles sind Probleme unserer Demokratie.

Dagegen helfen faire Wahlverfahren nur bedingt.

Wenn viele Menschen entweder nicht

oder Demokratiefeinde wählen.

 

Aus meiner Sicht müssen deshalb

auch die westlichen Demokratien mehr

an der Selbstwirksamkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger arbeiten.

 

Möglich ist das

durch eine Stärkung dezentraler Strukturen,

etwa der kommunalen Selbstverwaltung.

Durch Förderung der mittelständischen Wirtschaft.

Durch Respekt vor kulturellen Unterschieden und daraus

folgenden unterschiedlichen Lösungswegen, auch in der EU.

Und vor allem durch Bürokratieabbau.

Ich will aber eines nicht verschweigen:

Demokratisches Bewusstsein geht Hand in Hand

mit einem glaubwürdigen Wohlstandsversprechen.

 

Wohlstand für alle gibt es nur in einer Demokratie.

Keine Garantie, aber eine faire Chance.

Ohne eine Wohlstandsperspektive für möglichst alle

hat es aber auch eine Demokratie auf Dauer schwer.

 

Deshalb ist es für Europa, für Deutschland so wichtig,

ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder zu stärken.

Auch ihre Resilienz und Selbstverteidigungsfähigkeit.

 

Denn „die Achse der Autokraten“ (7),

wie Anne Applebaum das nennt,

wird stärker.

China, Russland, auch die USA.

 

George Orwell hatte in seinem Roman „1984“

nicht nur den Überwachsungsstaat beschrieben.

Sondern auch drei totalitäre, nuklear bewaffnete Superstaaten,

die die übrige Welt unter sich aufteilen:

Eurasia mit Russland als Kern,

Amerika und Oceania mit China als Fixpunkt.

Das muss keine Dystopie bleiben

Es könnte Realität werden.

 

Europa muss deshalb die Stimme der Freiheit sein.

Und diese Stimme muss so stark sein,

dass sie nicht eine wirtschaftliche, digitale oder politische

Kolonie von sog. Superstaaten wird.

 

Ich denke, hier haben wir gemeinsame Interessen.

Mit sich wirtschaftlich und politisch entwickelnden Ländern.

Mit Selbstwirksamkeit suchen Menschen auf der ganzen Welt.

 

Das ist für mich der verbindende Gedanke des heutigen Tages.

 

Lassen Sie mich so zusammenfassen:

Freiheit beginnt nicht mit der Verfassung oder mit Wahlen.

Freiheit beginnt in der Seele eines Menschen, der sagen kann:

Ich kann – und mein Handeln zählt.

 

Und das gilt auch für Staaten, die auf Dauer frei sein wollen.

Sie müssen sich etwas zutrauen.

Und sich ihre Selbstwirksamkeit wieder erarbeiten.

 

Es lebe die Freiheit!

 


1Democracy Index 2024 der britischen Zeitschrift The Economist, vom Februar 2025

2 Sen, 1999, Development as Freedom. Seine „Capability Approach“-Theorie definiert Freiheit als reale Befähigung, nicht nur formale Rechte. Sie verknüpft Autonomie mit materiellen und sozialen Voraussetzungen – Bildung, Gesundheit, Teilhabe.

3 Daten des World Values Survey und World Happiness Report zeigen hohe Korrelationen zwischen „freedom to choose what you do with your life“ und subjektivem Wohlbefinden. Vgl. Helliwell et al., World Happiness Report, 2023.

4 Ryan & Deci (2000), “Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Motivation, Social Development, and Well-Being“ in American Psychologist

5 Inglehart & Welzel (2005), Modernization, Cultural Change and Democracy, so auch Çelik et al. (2022), Journal of Education & Learning in einer Untersuchung bei türkischen Studenten

6 Zentrales Ergebnis der Untersuchung von Niemi, Craig & Mattei (1991), American Political Science Review

7 Anne Applebaum „Die Achse der Autokraten“, 2024