„Aus Innenstädten müssen Erlebnisräume werden“

In vielen Städten stirbt der Einzelhandel, die Innenstädte veröden. Wie geht man damit um? Die rheinland-pfälzische Kreisstadt Wittlich realisiert ein Konzept mit Vorbildcharakter.

„Aus Innenstädten müssen Erlebnisräume werden“

Mit „alwin“ (kurz für aktives Leerstandsmanagement in der Wittlicher Innenstadt) versucht die Stadt, Menschen, die ein Geschäft eröffnen möchten, mit Eigentümern zusammenzubringen. Kerngedanke dabei: Wer echte Belebung schaffen will, muss erst mal auf die Qualität achten und Attraktivität sichern. In Wittlich funktioniert das erstaunlich gut. Der Negativtrend konnte umgekehrt werden, mittlerweile ziehen auch wieder mehr Menschen in die Wittlicher Innenstadt zurück. Was hat die Stadt richtig gemacht, und was hat sie dabei gelernt? Ein Gespräch mit den Projektverantwortlichen Rainer Wener, Fachbereichsleiter Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing, und Verena Kartz, Bereich Stadtmarketing und Tourismus.

Viele Kommunen müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie ihre Innenstädte lebendig und vielfältig gestaltet werden können. Worauf setzt die Stadt Wittlich beim Projekt „alwin“?

Verena Kartz: Eine Besonderheit unseres Projekts ist es, dass wir sehr individuell auf Anfragen eingehen können. Das Projekt ist in vier Bausteine gegliedert, die es ermöglichen, Interessenten, die ein Geschäft eröffnen möchten, flexible Angebote zu machen und dadurch innovative Ladenkonzepte in die Stadt holen zu können. Bei „alwin genial“ zum Beispiel gibt es die Möglichkeit, insbesondere bei sehr lange leer stehenden Geschäftsräumen für sechs Monate die Miete ganz erlassen zu bekommen und weitere sechs Monate eine Staffelmiete folgen zu lassen. Im Gegenzug bringen die Interessenten eigene Kreativität und ausgefallene Ideen ein, um dem Konzept Leben einzuhauchen. Dann gibt es „alwin pop-up“ für Interessenten, die ein Konzept erst einmal ausprobieren wollen und zwischen einer Woche und bis zu drei Monaten ein Ladengeschäft anmieten können. Wer dagegen schon genau weiß, worauf er sich mit der Eröffnung eines Ladens einlässt, für den gibt es den Baustein „alwin direkt“, bei dem wir vermietungswillige Eigentümer vermitteln. Und bei „alwin experte“ schließlich stehen wir mit Beratung und Unterstützung als Experten zur Verfügung.

Inzwischen ist das Konzept so gut angenommen, dass sich meistens Eigentümer bei uns melden und fragen: Ich habe demnächst einen Leerstand und noch keinen Nachmieter, liegt vielleicht der Stadt ein Konzept oder eine Bewerbung vor, die in meine Immobilie passen würde? Wir sammeln dann die Ideen von Interessenten, die im Rahmen des Projekts auf uns zugekommen sind, und prüfen, welchen Baustein wir dazu anbieten können.
Wie ist das Projekt entstanden, wie haben Sie es auf den Weg gebracht?

„Aus Innenstädten müssen Erlebnisräume werden“
Rainer Werner, Fachbereichsleiter Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing und Projektverantwortlicher für „alwin“ bei der Stadt Wittlich

Wie ist das Projekt entstanden, wie haben Sie es auf den Weg gebracht?

Rainer Wener: Wittlich ist ländlich geprägt, war aber immer schon eine Kaufstadt. Wir sind verkehrstechnisch gut angebunden, haben ein großes Umland und davon hat der Einzelhandel seit jeher profitiert. Vor einigen Jahren ergab sich aber das Problem, das wir einen hohen Sanierungsstau und eine hohe Fluktuation in der Innenstadt hatten. Dazu kam, dass sich der Einzelhandel auch in der Peripherie sehr stark entwickelt hat, ebenso die Auswirkungen des Internethandels.2011 sind wir dann zu dem Entschluss gekommen, dass wir unser Entwicklungskonzept für die Innenstadt neu überdenken müssen.

Die Leitfrage war, wie wir wieder Leben in die Stadt bekommen. Da haben wir eine sehr klare Strategie entwickelt und zunächst einmal ein Förderprogramm aufgelegt, um die Bausubstanz in der Kernstadt, die historisch geprägt ist, wieder zu verbessern und modernes Wohnen zu ermöglichen. Das ist uns mittlerweile gelungen: Wir haben in den letzten Jahren die Einwohnerschaft in diesem kleinen Fördergebiet um über 50 Prozent erhöht. Auch die Bausubstanz hat sich deutlich verbessert. Parallel dazu haben wir uns die öffentlichen Räume angeschaut und nach Verbesserungen gesucht, um Lebensqualität und Lebensgefühl zu erhöhen. Mit “alwin” widmen wir uns nun dem Einzelhandel. Aus der Innenstadtentwicklung haben wir gelernt, dass wir nur dann Fortschritte machen können, wenn wir die Akteure direkt ansprechen. Formelle Schreiben oder Bekanntmachungen versanden meist nur. Darum sind wir bei “alwin” auf die Eigentümer zugegangen, zugleich aber auch auf die Einzelhändler, denn die profitieren ja ebenfalls davon, wenn interessante Läden in der Fußgängerzone entstehen. Und auch die regionalen Banken, also Sparkasse und Genossenschaftsbank, waren von Anfang an eingebunden, weil sie das nötige Know-how für die Finanzierung guter Ideen einbringen.

Uns geht es vor allem darum, Impulse zu setzen und dazu beizutragen, dass in der Innenstadt eine gesunde Mischung aus unterschiedlichen Angeboten entsteht.”
Verena Kartz, Stadt Wittlich, Bereich Stadtmarketing und Tourismus
„Aus Innenstädten müssen Erlebnisräume werden“
Verena Kartz aus dem Bereich Stadtmarketing und Tourismus der Stadt Wittlich

Das Augenmerk bei „alwin“ liegt ausdrücklich auf der Qualität des Einzelhandelsangebots. Wie wichtig ist dieser Aspekt?

Kartz: Sehr wichtig. Die Zukunft der Innenstadt kann nicht nur in der Grundversorgung liegen oder auf dem Ramschtisch. Innenstädte werden immer mehr zu Erlebnisräumen: Gäste und Kunden suchen dort Lebensqualität, Gemütlichkeit, Geschmack und Kultur. Man will als Kunde ein einzigartiges Sortiment vorfinden, für das sich der Weg in die Innenstadt lohnt, weil man es auch vor Ort ausprobieren möchte. Eines unserer Aushängeschilder für diese Art von Qualität ist die „C. Cigars Lounge“, die Ende letzten Jahres eröffnet hat. Hier hat ein junger Unternehmer eine Marktlücke gefunden, vertreibt hochwertige kubanische und dominikanische Zigarren und bietet dazu eine Smokerlounge, in der der Gast direkt zu seinem Rauchwerk auch Kaffee und passende Spirituosen genießen kann.

Mit einem solchen Geschäftskonzept verbessert sich auch die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt, umgekehrt profitiert der Unternehmer natürlich von der gesamten städtischen Strategie, von der Sanierung öffentlicher Plätze, dem öffentlichen WLAN und ähnlichen Maßnahmen.

Letztendlich sehen wir selbst uns aber vor allem als Schnittstelle. Wir bringen Interessenten zusammen, die Entscheidung aber, welches Geschäft in eine Immobilie kommt, trifft der Eigentümer. Uns geht es vor allem darum, Impulse zu setzen und dazu beizutragen, dass in der Innenstadt eine gesunde Mischung aus unterschiedlichen Angeboten entsteht.

 

Für das Gelingen eines solchen Projekts muss man mit vielen Menschen über schwierige Themen reden. Wie war die Resonanz unter Einzelhändlern und Einwohnern?

Wener: Am Anfang war durchaus einige Überzeugungsarbeit nötig, um zu vermitteln, wohin wir mit “alwin” wollen. Da gab es zum Beispiel den einen oder anderen Immobilienbesitzer, der aus der Vergangenheit hohe Mieten gewohnt war und nun, da diese Mieten nicht mehr bezahlt wurden, einfach den Leerstand in Kauf genommen hat. Aber wir haben mit vielen intensiven Gesprächen erreicht, dass sich eine große Zahl von Menschen auf unsere Idee eingelassen hat. Unser Kernargument war und ist: Um das Profil der Innenstadt zu stärken, müssen wir uns von dem unterscheiden, was es in der Peripherie gibt. Außerdem konnten wir an konkreten Beispielen zeigen, wie das Projekt funktioniert. Es gab zwei langjährige Leerstände, wo wir in einem Fall das „alwin-genial“-Konzept umgesetzt haben, im anderen das „pop-up“-Konzept. Und aus beiden Fällen sind nun langfristige Geschäftsvermietungen geworden, mit sehr interessanten Einzelhändlern. Das hat gezeigt, dass das Projekt funktionieren kann, wenn alle mitspielen. Insgesamt haben wir in den vergangenen anderthalb Jahren die Leerstände in der Innenstadt um fast die Hälfte reduzieren können. Dieser Erfolg hat bei anderen Interesse und Bereitschaft geweckt, mitzuwirken. So ist eine Eigendynamik entstanden, die unser Anliegen stärkt.

Ein Aspekt erscheint mir besonders wichtig für das Gelingen des Projekts: Wir haben von Anfang an darauf geachtet, dass die städtischen Gremien so umfänglich wie möglich hinter dem Projekt stehen. Das Innenstadtentwicklungskonzept wurde von einem Runden Tisch erarbeitet, bei dem jede Stadtratsfraktion mit einem Mitglied vertreten war. Wir haben das Konzept etwa zwei Jahre lang entwickelt und schließlich bei allen relevanten Gruppen Fürsprecher gefunden. Das hat zu der hohen Akzeptanz unseres Vorgehens beigetragen. Und jetzt, wo sich zeigt, dass es aufgeht, gibt es auch eine große Bereitschaft, zum weiteren Erfolg beizutragen.

Wir haben eine deutlich bessere Stimmung in der Stadt.”
Rainer Wener, Stadt Wittlich, Fachbereichsleiter Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing und Projektverantwortlicher für „alwin“

Führt das Projekt auch dazu, dass sich Bürgerinnen und Bürger wieder stärker mit ihrer Stadt identifizieren?

Wener: Da ist ein ganz deutlicher Trend erkennbar. Vor drei, vier Jahren war die Stimmung in der Stadt tatsächlich noch eher schlecht. Jetzt gibt es dank der vielen Haussanierungen, dank des hohen Zuzugs in der Kernstadt und durch die neuen, interessanten Geschäfte eine ganz klare Trendwende. Wir haben eine deutlich bessere Stimmung in der Stadt. Und die Aufmerksamkeit ist auch im Umland deutlich gestiegen. Wir empfangen viele Delegationen von Stadtverwaltungen und Marketingvereinen aus umliegenden Städten, die sich erkundigen, was wir hier in Wittlich machen.

 

Es gibt also Vernetzung und Erfahrungsaustausch mit anderen Kommunen?

Kartz: Ja, das ist uns auch sehr wichtig. Wir haben uns viel Zeit genommen, um „alwin“ in anderen Kommunen vorzustellen. Das gilt insbesondere für die Kommunen im weiteren Umfeld, weil es beim Thema Innenstadtentwicklung wichtig ist, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Das Grundproblem stellt sich ja für alle Kommunen gleich, auch wenn es im Detail unterschiedliche Voraussetzungen geben mag. Gut für uns ist, dass – anders als in vielen größeren Städten – die Immobilien nicht zu Konsortien gehören, die gar nicht mehr in der Stadt selbst ansässig sind. Diese Situation haben wir in Wittlich glücklicherweise nicht, und das erleichtert es natürlich, Ansprechpartner zu finden und schnelle Entscheidungen herbeizuführen.

 

Wie wichtig ist es, ein solches Projekt ganzheitlich anzugehen und mit anderen Stadtentwicklungs­maßnahmen in Einklang zu bringen?

Wener: Das ist ein zentraler Aspekt, denn eine Innenstadt ist nun mal ein sehr komplexer Raum. Wir haben darum bewusst auf eine hohe Öffentlichkeitsbeteiligung gesetzt und alle Akteure eingebunden, die ein Interesse daran haben, Leben in die Stadt zu bringen: Bürgerinnen und Bürger, Eigentümer, Anwohner und Einzelhändler. Wir haben auch das Jugendparlament gefragt, wie es seine Stadt in zehn, 15 Jahren sieht.

Kartz: Das Projekt verläuft in Wittlich sicher auch deshalb so gut, weil es eine klare strategische Aufstellung gibt, die Schritt für Schritt umgesetzt wird. Mit der Sanierung des Wohnraums wurde zunächst einmal die Stadt wieder besser nutzbar gemacht. Die Vielfalt der Bauprojekte – barrierefreie Wohnungen, altersgerechte Wohnungen, qualitativ hochwertiger Wohnraum – hat den Zuzug gesteigert, die Sanierung der öffentlichen Plätze die Aufenthaltsqualität verbessert. Und die Verbesserung des Einzelhandelssortiments trägt jetzt dazu bei, dass die Menschen ihre Leben vor Ort genießen können.

Wener: Wir haben auch unser kulturelles Angebot noch mal deutlich ausgebaut. Wir sind glücklicherweise ein starker Wirtschaftsstandort mit vielen Gewerbeansiedlungen. Wir haben nahezu so viele Arbeitsplätze wie Einwohner. Dadurch kommen natürlich auch viele neue Bürgerinnen und Bürger in die Stadt, die nach Möglichkeiten suchen, ihre Freizeit zu gestalten. Und da profitieren wir von einem sehr aktiven Stadtmarketingverein, der viele Veranstaltungen ins Programm nimmt.

 

In welcher Form ist die Sparkasse Mittelmosel in das Projekt eingebunden?

Wener: Die Sparkasse hat uns schon bei der Pionierarbeit sehr unterstützt. Sie hatte selbst einen Leerstand in ihrem Gebäude, den sie für das Konzept „alwin genial“ zur Verfügung gestellt hat. Da ist nun ein sehr schönes Geschäft eingezogen, die „Genußecke“, die Essige, Öle und Brände zur Selbstabfüllung verkauft. Der Händler hat das Ladengeschäft auf eigene Kosten renoviert und vor Kurzem einjähriges Jubiläum gefeiert. Das ist eines der Referenzbeispiele, mit denen wir zeigen konnten, wie das Projekt funktioniert.

Kartz: Außerdem gibt es bei der Sparkasse eine direkte Ansprechpartnerin für alle Belange, die mit einer Geschäftsgründung in Zusammenhang stehen. Das kann eine Anschubfinanzierung sein, eine Businessplanung oder einfach eine Beratung. Und auch wenn die Sparkassenmitarbeiterin nicht bei jedem unserer monatlichen Gespräche dabei ist, bleibt der Kontakt sehr eng und gut. Es ist ein großer Vorteil, wenn wir unseren Interessenten sagen können, dass wir da jemanden an der Hand haben, der sich die Zeit nimmt und der uns gut in finanziellen Dingen wertfrei beraten kann.

 

Wie sieht die Zukunft des Projekts aus? Gibt es Foren, in denen Erfahrungen und Ergebnisse diskutiert werden? Wie wird „alwin“ weiterentwickelt?

Kartz: Es gibt eine Expertenrunde mit vielen Teilnehmern, darunter vor allem Gewerbetreibende aus der Innenstadt. Wir gehen aber auch gezielt in die Stadt und suchen den Kontakt zu den Menschen. Es gibt zum Beispiel ein regelmäßig besetztes Infostudio in der Innenstadt, wo Interessenten vorbeikommen können, um über Ideen und Konzepte zu diskutieren. In Zukunft werden wir auch noch stärker an Knotenpunkten der Kommunikation präsent sein, zum Beispiel indem wir uns mit dem „alwin“-Vogel, unserer Bildmarke, in eine Gaststätte oder auf einen öffentlichen Platz setzen und zeigen: Wir sind offen für das Gespräch und für Vorschläge aus der Bevölkerung.

Wener: Ein Enddatum gibt es aber für „alwin“ nicht. Wenn wir die Leerstände weitgehend belegt haben, ist das ein Etappensieg, aber auch ein weiterer Ansporn. Der Handel ist in ständigem Wandel begriffen und man muss immer wieder auf neue Situationen reagieren. Die Stärke unseres Projekts ist die Vernetzung. Das gibt uns die Möglichkeit, auch in Zukunft schnell und flexibel neue Lösungen entwickeln zu können. Wir wollen auch offen bleiben für neue Ideen. Zurzeit sind wir in Gesprächen mit der Universität in Trier, um ein Start-up-Camp in Wittlich durchzuführen und bei jungen Gründern Werbung für die Stadt zu machen.