"Ökonomische Selbstbestimmung in der neuen Wirtschaftswelt"

Der digitale Umbruch verändere das Geschäftsmodell einzelner Unternehmen und ganzer Länder, sagte DSGV-Präsident Helmut Schleweis beim Transformationsgipfel der Tageszeitung "Die Welt" in Hamburg. Er  forderte mit Blick auf den digitalen Umbruch, "dass wir uns als europäische Wirtschaft enger zusammenschließen, um ausreichende Netzwerkgrößen und neue zukunftsfähige Branchen zu entwickeln." Schleweis beschrieb zudem die gesellschaftlichen Auswirkungen der dauerhaft expansiven Geldpolitik als "Umverteilung von unten nach oben".

 

Meine Damen und Herren,

in Kürze jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Damals war beides spürbar: der Umbruch eines politischen Systems - aber auch das Gefühl eines großen Aufbruchs. Diese Euphorie hat damals den amerikanischen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sogar veranlasst, vom Ende der Geschichte zu sprechen. Wie Viele andere kam er zu dem Schluss, dass sich mit dem Ende des sogenannten "Ostblocks" die liberale Demokratie als Ordnungsmodell durchgesetzt habe. Der Kampf um Würde und Selbstbestimmtheit, meinte er, sei abschließend gewonnen.

Wir sehen jetzt: Es ist anders gekommen. Wir erleben eine neue Welle der Abgrenzung zwischen - aber auch innerhalb liberaler Gesellschaften. "America first", neue nationale Aufwallungen in einigen osteuropäischen Staaten, der Brexit, oder auch die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien wären sonst kaum erklärbar. Und auch in Deutschland hält eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung unsere Marktwirtschaft für nicht sozial - im Osten Deutschland sogar fast zwei Drittel.

Viele Menschen ringen also weiter um Würde und Selbstbestimmtheit. Sie erleben ihre Lebensumstände als fremdbestimmt von einer durch und durch "ökonomisierten Welt", die der Identität des Einzelnen zu wenig Beachtung schenkt.

Diese "durchökonomisierte Welt" wird aktuell vor allem aus einem Blickwinkel hinterfragt: Aus dem Blickwinkel der ökologischen Nachhaltigkeit -  vor allem des Klimawandels. Und: Ja, das ist ein drängendes Problem. Doch ich halte es für entscheidend, dass wir darüber nicht die soziale und die ökonomische Nachhaltigkeit vergessen.

Jeder Wandel braucht ein festes gesellschaftliches Fundament, um zu gelingen - auch der Wandel hin zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsweise. Doch in vielen gut entwickelten westlichen Industriestaaten sind die Menschen heute nicht mehr sicher, ob es für sie selbst im Alter reichen wird und ob sie zudem ihren Kindern genug Chancen mit auf den Weg geben können. Tatsächlich sagt in Deutschland jeder Dritte Jugendliche aus schwächeren sozialen Schichten: "Die Verhältnisse sind so, dass ich mich aus eigener Kraft nicht werde verbessern können."

Deutschland hat in den letzten zehn Jahre gut gelebt, mit sehr ansprechenden Wachstumsraten. Doch jetzt müssen wir uns auf eine Phase gedämpften wirtschaftlichen Wachstums bei gleichzeitig steigenden gesellschaftlichen Aufgaben einstellen. Und wir bemerken dabei, dass wir schon zu lange aus der strukturellen Substanz unseres Landes gelebt und zu wenig in Infrastruktur und Bildung investiert haben. Im internationalen Vergleich sind wir zurückgefallen. 

Wir merken, dass uns die USA und zunehmend China in der Digitalisierung und der entstehenden Plattform-Ökonomie deutlich überlegen sind. Das alles verdient aus unserer Sicht mehr Aufmerksamkeit - auch weil die heutige Geldpolitik diese Probleme verschärft.

Die Flutung Europas mit billigem Geld stellt unser bewährtes Wirtschaftssystem auf den Kopf. Denn wer durch eigene ökonomische Kraft Zugang zu billigem Geld hat, dem wird gegeben. Wer zu wenig eigenes Kapital hat oder keinen soliden Zugang zu Kapitalmärkten, wer Mieter statt Hauseigentümer oder auf kapitalgedeckte Vorsorgesysteme angewiesen ist - dem wird genommen.

Wir als Sparkassen glauben, dass es vor diesem Hintergrund großen Veränderungsbedarf in unserem Land gibt - bei unserer Infrastruktur, bei der Digitalisierung, und auch in den geld- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen.

Doch warum beschäftigt uns das so? Den Sparkassen ist soziale und ökonomische Nachhaltigkeit schon mit dem Gründungsauftrag "ins Stammbuch" geschrieben. Sparkassen sind erst als Bürgerinitiative, später im Zuge der kommunalen Selbstverwaltung gegründet worden, um allen Teilen der Bevölkerung Zugang zu finanzwirtschaftlichen Leistungen zu bieten.

Der Kern dieses Angebots besteht darin, Menschen zur Vorsorge zu ermutigen. Ihnen Vertrauen in die eigene wirtschaftliche Zukunft zu geben - und die notwendigen Mittel, dies zu erreichen. Das nannte man damals: Zinsen. Vor allem aber wurden Sparkassen gegründet, um auch die Bezieher kleiner Einkommen sowie kleine und mittlere Unternehmen am Wirtschaftsleben teilhaben zu lassen und sie dadurch auch sozial einzubinden. So dass jeder aus seinen Möglichkeiten das Beste machen und vor allem: auch selbst darüber entscheiden kann. Also: Würde und Selbstbestimmung.

In den letzten Jahren erleben wir jedoch, dass der Grundgedanke der ökonomischen Selbstbestimmung für weite Teile unserer Kundschaft durch die Digitalisierung erheblich erschwert wird.

Das qualitativ Neue und Umwälzende einer digitalen Wirtschaft ist, dass ab einem gewissen "Point of no return" ein Kontrollverlust über die eigenen Regeln und Ressourcen droht. Denn der besondere Charakter der digitalen Wertschöpfung fördert die Konzentration der Wirtschaft auf wenige große Anbieter. Die meisten digitalen Produkte werden umso attraktiver, je mehr Menschen sie nutzen - das heißt dann "Netzwerkeffekt". Immer mehr Macht für wenige Konzerne, immer weniger Wettbewerb sind die Folge. Und der Effekt könnte sein: The winner takes it all.

Diese vorrangig digitale Wertschöpfung findet schon heute außerhalb Europas statt. Aus den USA heraus. Oder aus China. Und die hegemoniale Struktur der Internetmärkte wird durch regulatorische Lücken oder steuerliche Bevorzugung noch verstärkt.

Nur ein Beispiel: Alle Wirtschaftsakteure brauchen Zugang zu Plattformen und Schnittstellen. Banken und Sparkassen sind sogar gesetzlich verpflichtet, den Zugang zu den Konten ihrer Kunden kostenlos für Dritte zu öffnen. Doch umgekehrt stehen wir vielfach vor verschlossenen Türen.

Dasselbe Szenario bedroht Unternehmen in allen Branchen, die heute von digitalen Angeboten abhängig sind:  Behalten wir den Zugang zum Kunden - oder verlieren wir ihn an die geschlossenen Welten Dritter? Das ist nach meiner Überzeugung die ordnungspolitische Frage der Zukunft.

Ich halte den digitalen Umbruch in seiner gesamten Reichweite bisher für unterschätzt. Er verändert von Grund auf das Geschäftsmodell einzelner Unternehmen - und das Geschäftsmodell dieses Landes.

In einer Welt, in der Daten der relevante Rohstoff sind, werden vor allem mittelständische Unternehmen sehr verletzlich. Weil wir ab einem bestimmten Punkt eben nicht mehr selbst entscheiden - weil wir es nicht mehr entscheiden können - welcher Anteil an der Wertschöpfung uns künftig noch zusteht.

Es wird deshalb Zeit, dass wir uns als europäische Wirtschaft enger zusammenschließen, um ausreichende Netzwerkgrößen und neue zukunftsfähige Branchen zu entwickeln. Denn es gibt eine neue Form der Marktmacht. Dem müssen Unternehmen durch Kooperationen und der Staat durch die passende Aufsicht leichter entgegentreten können. Sonst sehen wir bald in der Wirtschaft, was sich sozial schon zeigt: Die Freiheit der Besteller ist die Unfreiheit der Boten.

 

Auch die dauerhaft expansive Geldpolitik erschwert die ökonomische Selbstbestimmung und damit die soziale Teilhabe unserer Kundinnen und Kunden. Es mag noch immer Beobachter geben, die Null- und Negativzinsen vor allem als ein handwerkliches Problem der Finanzwirtschaft ansehen. Doch die Auswirkungen reichen viel weiter.

Aus der Entwicklung in Japan kann man lernen, dass eine langjährige Geldschwemme wirtschaftliche Dynamik erstickt, die Stabilität des Finanzsystems gefährdet und zu deutlich höheren Preisen für Bankdienstleistungen führt. Deshalb warnen nicht nur Sparkassen, sondern nationale Notenbanken aus dem Euroraum, weite Teile der deutschen Kreditwirtschaft und der Wissenschaft deutlich vernehmbar vor den Auswirkungen der EZB-Politik.

Wirtschaftlich kann man sagen: Wir betreten eine neue Welt. Unser gesamtes bisheriges, marktwirtschaftliches System beruhte im Grunde auf dem Zins. Einem Preis, der die Balance hält zwischen Sparen und Investieren. Auf einem Preis für Risiko und temporären Konsumverzicht. Das ist jetzt nicht mehr so.

An den Märkten gibt es vielfach keine Zinsen mehr. Oder noch extremer: Schuldenmachen wird sogar noch vergütet. Das ist besonders sichtbar an den hervorragenden Konditionen für staatliche Verschuldung im Euro-Raum. Und das heißt im Umkehrschluss: Risiken sind in vielen Anlagebereichen nicht mehr erkennbar - zumindest nicht mehr am Preis.

Auf das Ende des Zinses waren weder die volkswirtschaftlichen Theorien, noch die normale IT eines Kreditinstituts eingestellt. Auch unser Rechtssystem betritt komplett Neuland.

Vor allem aber wird diese Geldpolitik langfristig für die gesamte Gesellschaft negative Auswirkungen haben. Das gilt für den negativen Leitzins, besonders aber für das jetzt wieder aufgestockte und unbefristete Anleihekaufprogramm der EZB. Denn wenn Zentralbanken mit nahezu unbegrenzten Mitteln attraktive Anleihen vom Markt kaufen, sinkt die Rendite in allen gängigen Segmenten - über Jahre.

Das entwertet die Leistungsfähigkeit der kapitalgedeckten Vorsorgesysteme europaweit. Fehlende Zinsen und Zinseszinsen werden zu immensen Lücken und Nachfinanzierungsbedarfen führen. In alternden Gesellschaften - und damit in weiten Teilen Europas - wird das die Kapitalspielräume der jungen Generation und der Unternehmen in der Zukunft deutlich einengen.

Pensionskassen, Stiftungen und Lebensversicherungen werden weniger zur Altersversorgung beitragen können, als geplant.  Für weniger Gutbetuchte steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit, von staatlichen Leistungen abhängig zu werden. Das trifft Millionen Familien. 

Wer etwas Risiko aushalten kann, geht vielleicht in Wertpapiere. Dank immer neuer regulatorischer Vorgaben müssen sich Wertpapiersparer dann aber mit allumfassender Informationsbürokratie oder sogar mit einer Finanztransaktionssteuer auseinandersetzen. Das verbaut Kleinsparern lukrativere Wege.

Und es ist noch völlig offen, ob alle Arbeitgeber die Zinslücke in der betrieblichen Altersvorsorge werden ausgleichen können. Das trifft kleine wie große Betriebe. Die jüngere Generation wird also nicht nur die Folgen des Klimawandels tragen müssen - sondern auch die sozialen Folgekosten der expansiven Geldpolitik. Das trifft uns alle.

Diese neue Wirtschaftswelt ist vor allem eins: nicht nachhaltig. Nach der Logik des "mehr hilft mehr" ist sie entschlossen, Wachstum per Notenpresse zu erkaufen. Das ist im ökonomischen Sinne nicht nachhaltig - weil es darauf abzielt, möglichst viele Ressourcen hier und jetzt zu verbrauchen. Es ist auch ökologisch nicht nachhaltig - weil Sofortkonsum natürlich heißt: mehr Transport und mehr Wegwerfen.

Vor allem aber ist eine solche dauerhaft expansive Geldpolitik sozial nicht nachhaltig: Weil sie zu einer Umverteilung von unten nach oben führt. Kapitalstärkere Bevölkerungskreise können Anlagechancen auf Kapital- und Immobilienmärkten nutzen. Sie laufen damit all jenen wirtschaftlich davon, die weniger Risiko tragen oder nur in geringem Umfang investieren können. Dadurch vertieft sich die wirtschaftliche Spaltung der Gesellschaft.

Diese gesellschafts- und finanzwirtschaftlichen Folgen der dauerhaft expansiven Geldpolitik widersprechen zutiefst dem Auftrag der Sparkassen, den Vermögensaufbau für alle Teile der Bevölkerung möglich - vor allem: möglichst einfach - zu machen.

Die Sparkassen haben deshalb bereits sehr lange Zeit die Kunden vor Negativzinsen bewahrt. Die EZB hat die Marktbedingungen aber so definiert, dass negative Zinsen gewollt sind. Zwischen Kreditinstituten und der EZB sowie auf den Anleihemärkten sind negative Zinsen seit Jahren Realität. Das wird sich weiter verschärfen.

Wir begrüßen deshalb, dass jetzt in der Politik die längst überfällige Diskussion beginnt, wie man die breite Bevölkerung vor den negativen Auswirkungen schützen kann. Ein Verbot von Negativzinsen widerspricht jedoch unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung.

Vielmehr sollte die öffentliche Hand die eingesparten Milliardenbeträge den Bürgerinnen und Bürgern zurückgeben. 16,6 Billionen Euro Staatsanleihen rentieren heute negativ. Das ist etwa ein Viertel der Euro-Staatsanleihen. Allein die öffentliche Hand in Deutschland hat gut 360 Mrd. Euro durch Niedrig- und Negativzinsen in den letzten zehn Jahren gespart. Die Sparer haben hingegen 300 Mrd. Euro an Zinsen verloren.

Dabei sparen die Menschen aus guten Gründen gegen das Zinstief an - nicht nur aus geschichtlicher Prägung. Die Deutschen gehen mit nur rund 50 Prozent des letzten Einkommens  in den Ruhestand. Anderswo in Europa ist es deutlich mehr. Auch deshalb ist die Sparquote der privaten Haushalte von 2013 auf 2018 jedes Jahr gestiegen. Inzwischen jedoch mit einem Ertrag nahe null. Weil niemand Zinsen auszahlen kann, die es am Markt nicht mehr gibt!

Wertzuwächse sind aktuell nur bei Vermögenspreisen zu beobachten. Es ist deshalb eine wichtige politische Zielsetzung, die breite Bevölkerung daran teilhaben zu lassen. Möglich wäre dies durch eine Erleichterung der Anlage in Wertpapieren, durch eine Modernisierung des Vermögensbildungsgesetzes - mit mehr Zulage für einen größeren Kreis von Berechtigten - und durch eine Senkung der Grunderwerbsteuer.

Denn die öffentlichen Haushalte werden auch weiterhin für sich milliardenschwere Entlastungen vereinnahmen, wenn sie die aktuellen Negativzinskonditionen für ihre Finanzierung nutzen.

Für uns als Sparkassen bedeutet die Preisgabe des Zinses, dass wir unser Geschäftsmodell weiterentwickeln müssen.  Wir werden Kompetenzen bündeln - wo wir mehr Kraft für gute Lösungen brauchen. Und straffen - wo es vor allem um eine schnelle Auslieferung zum Kunden geht. Wir werden deutlich stärker in datengestützte Ertragsmöglichkeiten investieren - und vernetzten uns dazu gezielt mit anderen Branchen. Mit dem Handel haben wir ja schon erfolgreich das kontaktlose Bezahlen etabliert. Und wir konzentrieren unsere Investitionen auf den Ausbau des Girokontos zu einem eigenen Ökosystem - dem finanziellen Zuhause unserer Kunden.

Was wir aber beibehalten, ist der Kern: Als Sparkassen sehen wir es als unsere Aufgabe, die Menschen in ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit zu unterstützen. So sind wir gegründet worden:  Als Partner der "hart arbeitenden Bevölkerung", wie es im ersten Gründungsdokument heißt.

Die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen ist auch weiterhin Träger einer zukunftsfähigen Demokratie. Sie bietet Selbstbestimmung. Souveränität. Und Würde. 

Für all das stehen wir als Sparkassen auch in Zukunft ein.

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